Ein verbitterter Kommentar zur Verkehrsunfallstatistik 2024.
Wer sich 2024 in Deutschland aufs Fahrrad setzte, tat das offenbar nicht nur zur Fortbewegung – sondern auch in stiller Bereitschaft, Teil einer traurigen Unfallstatistik zu werden. 441 Radfahrende starben im vergangenen Jahr im Straßenverkehr. Das sind über 16% aller Verkehrstoten. Jede:r sechste.
Wachsende Zahl toter Radfahrer – rückläufige Gesamtzahlen. Hä?
Während die Zahl der Verkehrstoten insgesamt um 18% gegenüber 2014 gesunken ist, stieg die Zahl der getöteten Radfahrer:innen im gleichen Zeitraum um 11%. Tolle Verkehrswende.
Wie das Statistische Bundesamt in ihrer Unfallstatistik letzte Woche mitteilte, ist der Großteil der getöteten Radler:innen aber nicht allein und besoffen gegen einen Baum gefahren – sondern von anderen Verkehrsteilnehmern aus dem Sattel befördert worden. Und wer hätte es gedacht? In rund 75% der Fälle war ein Auto schuld.
Es war halt schon immer so
Deutschlands Straßen wurden für Autos gebaut – und alle anderen müssen irgendwie mitspielen. Radfahrende bekommen schmale Streifen neben parkenden SUVs, auf denen sie sich entscheiden dürfen, ob sie links lieber unter die Räder geraten oder rechts gegen eine sich öffnende Autotür brettern wollen. Ups. Schutzstreifen nennt sich das. Ironisch, nicht?
Aber klar, wenn ein Unfall passiert, wird zuerst gefragt: „Hatte er einen Helm auf?“ Oder: „Ist sie über Rot gefahren?“ Dass der Radweg mal wieder im Nichts endete oder durch drei parkende Lieferwagen führte, ist irrelevant.
E-Bike-Rentner – das gern genommene Ablenkungsmanöver
Fast die Hälfte der getöteten Radfahrenden war mit einem Pedelec unterwegs – viele davon über 65. Und das ist natürlich praktisch wenn man die Schuld von strukturellen Problemen auf „Risikogruppen” abwälzen will/kann. Denn wo ein Senior mit Motorunterstützung stirbt, muss es ja nicht an der Kreuzung gelegen haben, die 1978 geplant wurde. Oder?
Warum stirbt alle 20 Stunden ein Radfahrer?
Weil Politik und Planung jahrzehntelang die Perspektive des allgemeinen Golf-Fahrers zur Norm gemacht haben. Weil Investitionen in den Radverkehr in Form von roter Farbe bestenfalls kosmetisch waren. Und weil es offenbar einfach akzeptiert wird, dass Radler von anderen Verkehrsteilnehmern getötet werden.
Rund 93.000 Fahrradunfälle mit Personenschaden gab es 2024 – fast immer war noch ein zweites Fahrzeug beteiligt, meistens ein Auto. Und wie oft lautete der erste Reflex: „Ja, der Radfahrer war aber auch echt schlecht zu sehen…“ Vielleicht, weil er zwischen Mülltonne, parkendem Transporter und Laterne versuchte, auf einem 80 cm breiten „Radweg“ zu überleben?
Politische Vision: Irgendwo im Nirgendwo
Im aktuellen Koalitionsvertrag liest sich die Radverkehrsstrategie wie er unterste Eintrag in der Einkaufsliste:
„Den Rad- und Fußverkehr werden wir als Bestandteil nachhaltiger Mobilität stärken und fördern.“1
Seite 26. Klingt toll und tut nicht weh. Dafür bekommen einen Satz weiter die ausgebeuteten LKW-Fahrer konkret bessere Stellplätze und der designierte Landwirtschaftsminister/Ex-Metzger träumt schon mal von niedrigeren Fleischpreisen2.
Eine ernsthafte Reform der Straßenverkehrsordnung? Fehlanzeige. Mehr Platz fürs Rad? Meistens nur dann, wenn er dem Gehweg genommen wird. Wer auf der Fahrbahn fährt, gilt weiterhin als Provokation. Und wenn es kracht, ist ja meistens der oder die „Unübersichtliche“ auf zwei Rädern schuld. Die Ergebnisse der jährlichen Unfallstatistik werden regelmäßig ignoriert.
Warum ich überhaupt noch lebe
Ich liebe Radfahren. Es ist mein Ausgleich, mein Sport. Aber die Wahrheit ist: ich hätte bisher KEINE meiner Radtouren unbeschadet beendet, wenn ich nicht mit maximaler Vorsicht, vorausschauend und defensiv unterwegs gewesen wäre – bei jeder einzelnen Fahrt. Ich rechne mit jeder Tür, jedem zu engen Überholmanöver, jeder noch so kleinen Unaufmerksamkeit anderer. Nicht weil ich paranoid bin, sondern weil ich in diesem Land Rad fahre.
Titelbild von Ed Leszczynskl auf Unsplash
Quellen
- Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD ↩︎
- Spiegel online ↩︎